dokumentarisches Theater-Projekt

Polnische Perlen

Bis vor einigen Jahren verließen fast nur Männer Heimat und Familie, um im Ausland Geld zu verdienen, im Straßenbau, in der Schwerindustrie oder auf dem Feld. In der New Economy hat sich das Bild verkehrt, scharenweise Frauen strömen auf den globalen Arbeitsmarkt, um in der Betreuungsindustrie zu arbeiten. Fürsorge und Liebe gelten als weibliche Domäne, und dafür bezahlen die Menschen in den Industriestaaten. Durch die demographische Entwicklung entsteht ein neuer Bedarf an Betreuungspersonal: Immer mehr Pflegerinnen reisen aus Osteuropa nach Deutschland, um hier alte Menschen zu betreuen, häufig in einem 24 Stunden Service, 7 Tage die Woche.

Für das Projekt hat die werkgruppe2 in einem der größten deutschen Niedrig-Lohn-Bereiche recherchiert, der häuslichen 24-Stunden-Pflege. Wir haben osteuropäische Frauen und Männer interviewt, die jeweils über Jahre hinweg für einige Monate pflegebedürftige alte Menschen rund um die Uhr in deren Privathaushalten in Deutschland betreuen. Meist ein ausbeuterisches, aber geduldetes Arbeitsverhältnis, das aus einer gegenseitigen Not entsteht: dem geringen und schlechtbezahlten Arbeitsangebot im europäischen Osten und dem Mangel an einer bezahlbaren häuslichen Pflege in Deutschland, die einhergeht mit dem Wunsch, die Familienangehörigen nicht zu belasten. Und wer von uns möchte nicht in den eigenen vier Wänden alt werden?

Mit: Philipp Grimm, David Kosel, Franziska Roloff, Matthias Schamberger, Nientje Schwabe, Fanny Staffa und den Musikerinnen Insa Rudolph, Katharina Pfänder, Kristina van de Sand, Lisa Stepf (Quartett plus 1)

Regie: Julia Roesler

Bühne: Julia Schiller

Kostüme: Dorothea Hoffmann

Musik: Insa Rudolph

Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Axel Preuss

Fotos: Volker Beinhorn

Premiere: 20.März 2014, Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus

Weitere Vorstellungen:
25. + 27.3., 4. + 11.4.2014 
14. + 18.5., 5. + 7.6.2014

 

„Selten hat das freie Theaterensemble Werkgruppe2 so unwiderlegbar beweisen können, warum es vernünftig ist, so nachhaltig auf der Interpretation der eigenen Recherchen durch Schauspieler zu beharren. „Polnische Perlen“, die jüngste szenische Untersuchung an den Brennpunkten des Alltags, wäre als einfache Dokumentation mit „Betroffenen“ auf der Bühne schlicht undenkbar. Es ist gerade die Art der Darstellung, die das Stück zum Ereignis macht.  (…) vom Wohlstandsgefälle im reichen Europa erzählt dieser Abend. Vielleicht verstummt sogar der eine oder die andere vor diesen Geschichten – oder besser: widerspricht, wenn mal wieder beiläufig von „Sozialschmarotzern“ die Rede ist. Die Frauen und Männer, die hier zu Wort kommen, erzählen etwas anderes.“
taz, Michael Laages

„Selten sind in nicht-dokumentarischen Produktionen so präzise Figuren-Portraits zu bestaunen. Dabei zahlt sich aus, dass Roesler sich traut, auf die scheinbar obligatorischen Regietheater-Brüche zu verzichten. Ihre Schauspieler verkörpern immer eine Figur. Sie treten niemals aus der Rolle und kommentieren das Geschehen nicht aus einer scheinbaren Privatheit. Beim Zusehen und Zuhören kann so einer Art magische Realität entstehen. Gerade weil nicht reale Menschen auf der Bühne stehen, funktioniert die Empathie – zum Schluss haben etliche Zuschauer Tränen in den Augen.“
nachtkritik, Alexander Kohlmann

„Die lakonisch leicht schwebende Inszenierung wird dabei durch die zutiefst melancholische, fast katatonisch anmutende Musik von Komponistin Insa Rudolf unterstützt.“
NDR Kultur, Jürgen Jenauer

„Entstanden ist eine atmosphärisch dichte Inszenierung, die die prekäre Situation der Polnischen Perlen mit sinnlicher Genauigkeit ausstellt. Sehnsucht nach der Familie in der Heimat, Überforderung, Scham bis Ekel bei sich einkotenden Patienten, die rechtliche und soziale Unsicherheit, die letztlich schlechte Bezahlung. Die Inszenierung erzählt zwar nichts, was man nicht irgendwie schon zu wissen glaubte, doch wie sie es erzählt, das setzt sich fest im Betrachter.“
Deutschlandradio Kultur  Kulturtipp, Hartmut Krug    

„Dem Abend gelingt es, Journalismus und Theater zu verbinden und die Zuschauer emotional zu berühren. Ein Kunststück, das im Genre das Dokumentartheaters keineswegs verständlich ist.“
Deutschlandradio Kultur, Fazit, Alexander Kohlmann

eine Produktion von werkgruppe2 und dem Staatstheater Braunschweig im Doppelpass-Projekt „Fliehkräfte“

gefördert im Rahmen des Programms Doppelpass durch die Kulturstiftung des Bundes, das Land Niedersachsen und die Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz